Talent, harte Arbeit oder doch eher durchmogeln? – Das Hochstapler-Syndrom

„Wow, du hast einen Doktortitel?“ Das höre ich schon immer mal, wenn ich mich jemandem vorstelle. Für mich ist diese Faszination schwer nachvollziehbar – ich habe einfach meine Arbeit gemacht. Natürlich habe ich mich angestrengt, aber ich habe dabei keine bahnbrechenden Entdeckungen gemacht und ich kenne viele Menschen (mit und ohne Doktor), die ich als intelligenter, eifriger, oder tüchtiger als mich selbst empfinde.

Diesen Artikel zu schreiben, finde ich nicht unbedingt einfach. Irgendwie klingt es doch immer so, als wollte ich mich eigentlich selbst loben, oder? Wie falsche Bescheidenheit? Soll es jedenfalls nicht sein. Ich bin stolz, dass ich es geschafft habe, zu promovieren, aber ich weiß auch, dass viele andere Dinge im Leben viel, viel wichtiger sind als das.

Und überhaupt soll es auch gar nicht um mich gehen, sondern um das Hochstapler-Syndrom (english: Imposter syndrome). Häufig leiden vor allem Menschen darunter, die schon viel erreicht haben, intelligent sind und anspruchsvolle Jobs haben. Es gibt verschiedene Formen, aber dazu gleich mehr. Erstmal zusammengefasst: diese Menschen fühlen sich oft, als würden sie ihre Positionen/Ehrungen/Titel nicht verdienen und hätten sich nur irgendwie durchgemogelt. So, als würde jeden Moment jemand sie ansehen und feststellen, dass sie gar nicht für den Job gemacht sind, den sie eigentlich wunderbar ausüben.

Die Situation, die ich oben beschrieben habe, ist eher normal. Ich erkenne an, dass ich den Doktor verdient habe, sehe aber auch, dass es gar nicht so wichtig ist. Trotzdem kann ich mich darüber freuen. Menschen mit Hochstapler-Syndrom können das nicht. Sie arbeiten oft mehr und mehr, weil sie nie das Gefühl haben, genug zu tun. Es klingt vielleicht nicht sehr schlimm. Okay, immerhin laufen diese Menschen nicht mit erhobener Nase herum wie andere, die sich selbst und ihre Titel/Positionen zu ernst nehmen. Aber für die Betroffenen kann es tatsächlich gefährlich sein. Wenn man nie mit sich zufrieden sein kann, immer mehr und mehr tun muss und sich keine Pausen gönnt, kann es früher oder später zum Burnout kommen. Irgendwann ist einfach Ende.

Eine offizielle psychische Erkrankung ist das Hochstapler-Syndrom jedoch nicht. Es wird weder in den DSM-5 oder den ICD-10 aufgelistet, das sind Auflistungen von Diagnosekriterien für verschiedene psychische Krankheiten, von Schizophrenie über Depression bis hin zur Drogensucht. Krankheiten, die in diesen Handbüchern auftauchen, sind entsprechend gut definiert und in Kategorien eingeteilt. Für das Hochstapler-Syndrom gibt es keine solch einheitlichen Definitionen, daher gibt es verschiedene Meinungen dazu.

Eine Einteilung wäre zum Beispiel in diese drei Kategorien:

  1. „Ich täusche meine Umwelt!“ Hier geht es um die Angst, dass jemand die „Wahrheit“ herausfindet, dass man eigentlich nichts kann.
  2. „Ich hatte nur Glück!“ Die positiven Dinge in meinem Leben habe ich nicht verdient, weil ich nicht schlau/talentiert genug bin.
  3. „Das ist doch keine große Sache!“ Diese Menschen können Komplimente nicht annehmen und sehen eigene Erfolge als unwichtig an.

Andere Quellen teilen es anders ein, mit mehr Abstufungen und anderen Schwerpunkten. Letztendlich ist die Klassifikation aber unwichtig, und oft verschwimmen die Typen auch miteinander. Wenn ich Angst habe, enttarnt zu werden, weil ich eigentlich ein Schwindler bin, dann werde ich auch Komplimente zu meinen Erfolgen nicht annehmen können und sehe wohl auch nichts als verdient an.

Auch Tipps, wie man damit umgehen kann, gibt es verschiedene. Meiner Meinung nach auch oft wenig hilfreiche: Ein Artikel zum Beispiel sagt Menschen, die sich selbst nie gut genug sind (Perfektionisten), dass sie lernen sollen, ihre Fehler anzunehmen. Ja, ok. Aber wenn man das nun einmal nicht kann, wird dieser „Tipp“ es sicher nicht ändern.

Ein Artikel im American Journal of Pharmaceutical Education beschreibt das Imposter Syndrome aus der Sicht eines Akademikers, der selbst darunter leidet. Er beschreibt, wie er es empfindet und was er dagegen tun wird (spannend wäre auch ein follow-up Artikel, wie gut es funktioniert, den stellt er auch in Aussicht). Ob seine Tipps, die er selbst noch ausprobieren möchte, helfen, weiß ich natürlich nicht.

Von allen im Internet verfügbaren Informationen sind wohl für Betroffene diejenigen am wichtigsten, die von Leidensgenossen geschrieben sind. Zu lernen, dass man nicht alleine ist, hilft vielen Menschen schon. Selbstzweifel kennen wahrscheinlich die meisten Menschen, aber wenn es schädliche Ausmaße annimmt, sollte man etwas dagegen tun. Verwechseln darf man es jedenfalls nicht mit Bescheidenheit – eine Portion davon tut jedem gut.

Kurze Anmerkung am Ende: In unserer Gesellschaft ist es immernoch schwer, eine psychische Störung zuzugeben. Irgendwie passt das nicht in unser Bild eines leistungsstarken Menschen. Nicht nur im Sinne des Hochstapler-Syndroms: Wir sollten es Menschen erlauben, offen und ehrlich mit ihren Erkrankungen umzugehen. Nur so können sie darüber sprechen und sich vielleicht schon dadurch besser fühlen.