Heute mal ein sehr ernstes Thema, auf Anfrage von Bekannten: Selbstverletzung. Was ist es, wer tut es, was geht dabei im Gehirn vor und was kann man dagegen tun?
Viele Jugendliche verletzen sich selbst, beispielsweise durch Schnitte (Ritzen, etwa 70 – 90 % der Betroffenen), Schlagen (21-44 %) oder Verbrennungen (15 – 35 %). Meistens beginnt das Verhalten mit etwa 12 – 14 Jahren und dauert ungefähr zwei Jahre an. Natürlich gibt es auch Ausnahmen, wo die Betroffenen bis zu 15 Jahren damit zu kämpfen haben, besonders, wenn sie es ohne professionelle Hilfe versuchen.
Ab wann handelt es sich um Selbstverletzung?
Frühere Definitionen waren so ausgedrückt, dass auch Tattoos, Piercings und ähnliche Körperveränderungen dazu zählte. Das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders; englisch für „Diagnostischer und statistischer Leitfaden psychischer Störungen“) definiert Selbstverletzung nun als „sozial inakzeptable, absichtliche Beschädigung des Körpers, bei der Blutungen, Quetschungen oder Schmerz herbeigeführt werden, um psychisches Unwohlsein zu vermindern“.
Selbstverletzungen können entweder als Symptome anderer Krankheiten auftreten (emotionale oder Entwicklungskrankheiten), oder als eigenes Krankheitsbild behandelt werden (Non-Suicidal Self-Injury, NSSI, „Nichtsuizidale Selbstverletzung“). Oft – und das ging mir bis vor kurzem auch so – denkt man bei Selbstverletzung sofort an das Borderline-Syndrom. Aber das muss nicht stimmen. Selbstverletzung kommt beispielsweise in Jugendlichen und jungen Erwachsenen viel häufiger vor als das Borderline-Syndrom in der allgemeinen Bevölkerung zu finden ist.
Gründe gibt es viele, vielfältige. Oft gibt es bei Betroffenen traumatische Erlebnisse in der Kindheit, etwa in der Familie oder der Schule, und die Verletzungen sind ein Weg, mit den emotionalen Schmerzen klarzukommen. Ich möchte jetzt auf die Motivationen und verschiedene Modelle eingehen. Das klingt zwar recht theoretisch, hilft aber meiner Meinung nach, die Betroffenen besser zu verstehen.
Selbstverletzung kann verschiedene Aufgaben erfüllen:
1. Negative Emotionen verringern
2. Weg zur Realität als Antwort auf Dissoziation oder Verlust des Ich-Empfindens
3. Verhindern von Selbstmordgedanken
4. Die Umgebung beeinflussen
5. Eigene Grenzen bestimmen
6. Sich selbst oder Andere bestrafen
7. Traumatische Erlebnisse ausdrücken oder Trauma erneut erleben
8. Emotionen hervorrufen, wenn man sich innerlich leer fühlt
Verschiedene Modelle, die sich teil ergänzen, sollen weiter erklären, was im Gehirn vorgeht:
The Experiential Avoidance Model (Vermeidung unangenehmer innerer Erlebnisse):
Die Verletzung wird angewandt, um negative Gefühle zu regulieren. Durch die kurzzeitige Verbesserung (Entspannung, Erleichterung) erscheint das Verletzen als positive Strategie und die Betroffenen wiederholen es. Dadurch wird das Verhalten nach und nach zur Gewohnheit, so dass es irgendwann eine automatische Antwort auf emotionale Situationen wird.
Emotional Cascade Model (Emotionsspirale)
Hier nimmt man an, dass Betroffene oft über negative Erlebnisse nachdenken, wodurch sich negative Gefühle ansammeln. Das sorgt wiederum dafür, dass sie neue negative Erfahrungen stärker wahrnehmen. Darauf folgt mehr Grübeln und so weiter: eine Emotionsspirale nach unten. Die Betroffenen können das nicht kontrollieren, außer indem sie sich selbst verletzen. Und da der Schmerz oder das Blut tatsächlich die Spirale stoppt, wird es immer wieder angewandt.
Nock’s Integrated Theoretical Model (Nock’s ganzheitliches theoretisches Modell)
In diesem Modell definiert Nock verschiedene Faktoren, die zu selbstverletzendem Verhalten führen:
Erstens die sogenannten „distalen Faktoren“, wie eine genetische Veranlagung zu stark emotionalen Reaktionen, Missbrauch oder Vernachlässigung in der Kindheit, oder Feindseeligkeit und Kritik durch die Eltern.
Zweitens zwischenmenschliche Faktoren, wie eine geringe Toleranz gegenüber Anspannung, schnelles Einsetzen der Emotionsspirale, und schlechte soziale Kompetenzen.
Dann teilt Nock 4 Vorgänge ein, die zu Selbstverletzungen führen: die Vermeidung ungewünschter emotionaler Zustände, das Erreichen eines erwünschten emotionalen Zustandes, das Hilfesuchen und das Entkommen aus ungewünschten sozialen Situationen. Das ist zwar kompliziert ausgedrückt, sagt aber auch nicht viel mehr aus als wir schon wussten.
Biopsychosocial Model (Biopsychosoziales Modell)
Dieses Modell soll ausdrücken, dass verschiedene Aspekte miteinander interagieren: die Umwelt, geistige, gefühlsbedingte, Verhaltens- und biologische Aspekte. Genauer mag ich es gar nicht ausführen, denn die Erklärungen scheinen nur das zu verkomplizieren, was wir schon in den anderen Modellen irgendwie gesehen haben.
Noch kurz zu den biologischen Aspekten:
Es gibt bisher zwar Studien zu dem Thema, diese widersprechen sich jedoch teilweise oder lassen sich nicht so richtig erklären. Daher möchte ich hier gar nicht in die Tiefe gehen. Was eindeutig scheint, ist, dass das Opioid-System eine Rolle spielt. Wer dabei an Opium denkt, liegt zwar nicht falsch, sieht aber nur einen winzigen Teil. Denn die Opioid-Rezeptoren (Proteine, an die zum Beispiel Opium andocken können und die dann die Wirkung weiterleiten) sind in erster Linie als Empfänger körpereigener Substanzen gedacht. Diese heißen Endorphine und Endomorphine und helfen uns vor allem (aber nicht nur) bei der Schmerzabwehr. Opium-Drogen nutzen allerdings den Mechanismus, um ihre Wirkung zu entfalten. Nun gibt es schon zwei Theorien, was das Opioid-System bei Selbstverletzung angeht: Entweder, die Verletzung sorgt für die Freisetzung der körpereigenen Opioide, wodurch Stress abgebaut und der Körper betäubt wird. Oder, ein generell höheres Level an eigenen Opioiden macht Menschen, die sich selbst verletzen, weniger schmerzempfindlich, und das erlaubt ihnen erst dieses Verhalten. Da es aber auch Studien gibt, die geringere Mengen der Opioide in Patienten gefunden haben, ist auch hier wieder fraglich, wie es wirklich ist.
Der Beitrag wäre viel zu lang, wenn ich auf alle spannenden Aspekte eingegangen wäre. Eine wissenschaftliche Publikation (die aber auch für Laien in den wichtigen Fragen einigermaßen verständlich geschrieben ist) möchte ich allen Interessierten ans Herz legen: „Self-injury – placement in mental disorders classifications, risk factors and primary mechanisms. Review of the literature“ von Kamila Lenkiewicz, Ewa Racicka und Anita Brýnska. Man muss natürlich Englisch verstehen – oder Polnisch, denn das ist die Originalsprache der Publikation.
Außerdem gibt es im Internet einige Foren, in denen sich Betroffene und ihrre Angehörigen austauschen und informieren können, zum Beispiel Rote Linien oder Rote Tränen. Über Google findet man verschiedenes, da muss jeder schauen, wo er sich wohlfühlt. Aber vorsicht: Eure Beiträge in Foren können von allen gelesen werden, und selbst, wenn man in Passwort-geschützte Bereiche geht – Passwörter bekommt man leicht. Überlegt euch also, was ihr mit der Welt teilen möchtet.
Eine persönliche Anmerkung: Im Internet findet man viele Informationen und in den Foren vielleicht auch etwas Trost und Hilfe. Aber als Betroffener solltest du unbedingt professionelle Hilfe in Anspruch nehmen! Und für Eltern von Betroffenen: seien Sie offen, reden Sie (wenn möglich) mit Ihrem Kind darüber, und schlagen Sie ein Gespräch mit Fachkräften vor. Ablehnung, Entsetzen oder gar Bestrafung wären die schlimmsten vorstellbaren Reaktionen!